Ich bin als Einzelkind aufgewachsen, was in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts ganz sicher für meine Eltern, und auch für mich, wirtschaftlich von Vorteil war. Ein Kind mehr zu versorgen, hätte für meinen Eltern ganz sicher Schwierigkeiten bedeutet, finanziell, auch wenn Eltern und Schwiegereltern selbstständige Unternehmer waren und womöglich meine Eltern unterstützt haben. Aber die hatten nach dem Krieg auch ihre Probleme. Aus heutiger Sicht kann ich das beurteilen.
In den hintersten Schubladen meines Denkapparates ist da aber was, da war mal was. So richtig zum Greifen war das für mich nie, ich hab da mal was gehört, vielleicht ein Gespräch belauscht: Meine Mutter ist nach mir nochmal schwanger gewesen. Das Wort „schwanger“ war irgendwie auf dem Index. Man sagte „in anderen Umständen“, wie es auch Umstandsbekleidung gab. Heisst das heute immer noch so? Wenn ja – schrecklich. Natürlich wusste jeder Bescheid, dass, wer „in anderen Umständen“ war, ein Kind in sich trug. Ich glaube, meine Mutter hat bis an ihr Lebensende mit 96 Jahren das Wort „schwanger“ nie in den Mund genommen. Ich schweife ab.
Ich erinnnere mich, dass wir an den Totengedenktagen im Novemer zum Friedhof pilgerten und die Altvorderen besuchten. Oma, Opa, meine Eltern und ich. Alle, die dort in der Friedhofserde vorsichhinnmoderten, kannte ich nicht. Ich vermute, dass es die Adoptiveltern meiner Oma waren. Danach ging es dann zu einem anderen Grab. Es war nur grünbewachsen mit einem Bodendecker, kein Kreuz, kein Stein, ein namenloses Grab, ein Kindergrab von der Grösse her. Ich fragte wohl auch, wer denn da wohl beerdigt sei. In meinem Denkapparat ist der Name Siegfried enthalten. Mehr zu diesem Thema wurde in meinem Beisein nie erwähnt.
Mit dem Fortgang meines Alters kramte ich im Denkapparat und mir wurde bewusst, dass es sich um einen Bruder von mir handeln müsste. Ich habe nie einen Bruder gehabt, was mir in meiner persönlichen Entwicklung, aus späterer Erkenntnis, nicht gutgetan hat. Ich hätte, aus heutiger Sicht, gern einen Bruder oder eine Schwester gehabt. Aus wirtschaftlichem Aspekt war es gut, dass es nicht so war.
Als meine Mutter starb, habe ich in ihren Papieren nichts gefunden, dass meine Mutter noch ein Kind zur Welt gebracht hat. Es gab keine Urkunden oder andere Hinweise auf eine weitere Schwangerschaft. Das Thema wurde wohl im wahrsten Sinn totgeschwiegen. Aber ich wollte mehr wissen.
Anfang dieses Jahres schickte ich eine Mail an das Standesamt in Lübeck. Ich weiss, dass Kinder, die lebend zur Welt gebracht werden, an das Standesamt gemeldet werden müssen und ein Begräbnis erhalten, und wenn sie nur eine einzige Minute nach der Geburt gelebt haben.
Ich habe jetzt die Kopie der Geburtsurkunde meines Bruders in Händen, geboren am 18. Oktober 1954. Am Ende der Urkunde ist ein Vermerk „Tod des Kindes am 18.10.1954“. Mein Bruder hat also nur wenige Stunden gelebt, oder gar nur wenige Minuten. Deshalb hatte er ein Grab auf einem Friedhof.
Inzwischen kann ich verstehen, dass ich sehr sehr behütet aufgewachsen bin. Geh nicht hier hin, geh nicht da hin, tu dies nicht, tu das nicht, und ähnliche Dinge mehr. Aus heutiger Sicht würde man von einer Helikoptermutter sprechen. Nein, so schlimm war es nicht, da tu ich meiner Mutter unrecht. Für meine persönliche Entwicklung war das nicht sehr hilfreich. Aber daraus kann ich meiner Mutter keinen Vorwurf machen.
Es könnte sogar sein, dass meine Mutter vor meiner Geburt schon mal „in anderen Umständen“ gewesen ist. Das müsste ich aber in meinem Geburtsort Hannover recherchieren. Klar, wer schon mal ein Kind verloren hat, vielleicht sogar zwei, richtet seine Liebe und Fürsorge auf das Kind, welches lebt.
Eins ist mir heute bewusst geworden: Zu wissen, oder zu glauben zu wissen, dass man ein Bruder hatte, ist eine Sache. Wenn man aber die Geburtsurkunde in der Hand hat, und die Gewissheit hat, dass man einen Bruder hatte, wenn auch nur für wenige Augenblicke ….
Ich kann mich nicht an meine Mutter mit einem dickem Bauch erinnern, oder daran, dass sie mal nicht präsent war. Mit 4-1/2 Jahren müsste ich da doch eine Erinnerung haben. Aber da ist absolut nichts.
Auf dem Anschreiben zur Übersendung der Urkunde steht „Das Kind ist am 18.10.1954 verstorben, der Sterbeeintrag kann vom Archiv Lübeck mit beigefügtem Formular angefordert werden.“ Jetzt bin ich schon so weit, das werde ich jetzt auch noch anfordern.
Hallo Siegfried, schade, dass ich dich nicht kennengelernt habe.