Das Beben

Was ist da los? Was ist passiert? In zwei Blogs las ich Bemerkungen über irgendwas aus der Bloggerwelt, ohne dass auf Einzelheiten eingegangen wurde. Ich musste nachfragen – und ich bekam eine Antwort die mich vom Hocker gehauen hat. Inzwischen wird in anderen Blogs Klartext geschrieben

Es geht um ein Blog, welchem ich auch seit geraumer Zeit folgte und in welchem ich gern gelesen habe. Es stellte sich nun heraus, dass die Dame mit einer falschen religiösen Identität gearbeitet hat. Es schien so, als sei sie jüdischen Glaubens und einige ihrer Vorfahren wären in der Nazizeit umgekommen. Aufmerksame Leser des Blogs sind ein paar Ungereimtheiten aufgefallen und sind der Sache nachgegangen. Und da flog die Sache auf.

Schon vor Monaten beklagte sich die Dame in ihrem Blog, dass sie Angriffen auf ihre Person ausgesetzt sei, sie wäre nicht die, für die sie sich ausgäbe. Die treue Leserschaft, unter anderem auch ich, stärkten ihr in den Kommentaren den Rücken, sie solle sich nicht verrückt machen lassen, wir lesen doch alle gern bei ihr, und was es doch für schlechte Menschen gäbe. Es stellt sich also jetzt heraus, dass sich eine Täterin zum Opfer gemacht hatte, die Vorwürfe nicht aus der Luft gegriffen waren.

Das Beben der Aufklärung kommt einem Tsunami gleich und schlug hohe Wellen: Die Dame hatte gefälschte Dokumente über 22 angebliche Holocaustopfer bei einer jüdischen Institution eingereicht. Die Wellen waren so hoch, dass sogar das Auswärtige Amt eingeschaltet werden musste.

Jetzt, wo alles vorbei ist, das Blog vom Netz genommen wurde, frage ich mich, was von den Erzählungen im Blog überhaupt wahr gewesen ist. Der Hund, die Katze, die Wildtaube, die Frau des Krämers, die Tochter der Frau des Krämers, der Tierarzt, der Pfarrer nebenan, das morgendliche Schwimmen im Meer – ist das alles wirklich passiert, gab es das alles wirklich? Oder entsprangen die vielen Geschichten der Phantasie des Fräuleins?

Ich weiß nicht, ob ich enttäuscht sein soll oder verärgert. Denn eins steht fest: Wir alle haben sehr sehr gern bei Fräulein Read On gelesen. Weil es so bildlich war. Ihr Schreibstil ließ Bilder in meinem Kopf entstehen, Kopfkino auf neudeutsch. An der einen oder anderen Stelle habe ich hin und wieder schon gedacht: Ist das wirklich wahr? Vielleicht ist einiges wahr und ich hatte diesen Gedanken womöglich an den falschen Stellen, nämlich an den wahren Begebenheiten.

Was mich entsetzt ist die Tatsache, dass das Fräulein mit der jüdischen Religion und mit jüdischen Traditionen „gespielt“ hat. Das ist ein Unding, was einer promovierten, und sicher nicht dummen, Frau nicht passieren sollte. Und da komme ich zu Frage: Warum hat sie das gemacht?

Fräulein Read On (ihr richtiger Name ist inzwischen bekannt, den möchte ich aber vorsichtshalber hier nicht erwähnen) ist in einem verhältnismäßig zarten Alter von 31 Jahren. Es ist davon auszugehen, dass sie ledig ist. Ist es Toschlusspanik, sexuelle Frustration, dass sie versucht hat, mit tollen – und dabei unwahren – Geschichten Aufmerksamkeit zu bekommen? Gewissermaßen eine Ersatzbefriedung? Mir fiel dazu ein krasses Zitat aus einem Musical ein, welches ich hier lieber auch nicht wiedergeben werde.

Eins ist klar: Ich habe sehr sehr gerne im Blog vom Fräulein gelesen, gelegentlich auch kommentiert. Und es gab immer sehr viele Kommentare von den zahlreichen Leserinnen und Lesern des Blogs, welches sich wirklich großer Beliebtheit erfreute. Ich werde Fräulein Read On vermissen – obwohl sie uns alle ge- und enttäuscht hat.

14 Gedanken zu „Das Beben

  1. Trulla

    Lieber Hans-Georg, Ihre Zusammenfassung und Auslegung der Ereignisse gefällt mir sehr gut. Ich denke auch, uns als treuen Lesern war klar, dass nicht alles wahr sein konnte, obwohl es wie Wahrheit erzählt wurde. Widersprüche habe ich als “dichterische Freiheit“ hingenommen. Im Fräulein sehe ich nach wie vor eine außergewöhnliche (inzwischen tragische) Persönlichkeit von hoher Intelligenz, Fantasie und vielen Begabungen. Und da die reale Person als promovierte Historikerin “mit jüdischem Hintergrund“ in der Öffentlichkeit präsent war, hatte ich nie den geringsten Zweifel am Wahrheitsgehalt Ihrer Identität. Und da fühle ich mich nicht nur hintergangen, sondern bin entsetzt, wie weit ihre Hochstapelei gegangen ist. Denn das Fräulein stellte doch fast so etwas wie eine moralische Instanz dar. Eine Moral, die ich mit ihr teilte und auch deshalb große Zuneigung zu ihr entwickelte.

    Irritationen wurden bei mir in der letzten Zeit allerdings stärker durch die Überempfindlichkeit schon bei kleinster von ihr so verstandener “Kritik“. Andere Sichtweisen als ihre eigenen konnte sie nicht zulassen.

    Antworten
    1. Hans-Georg

      Vielen Dank für Ihre Worte.
      Ein Blog zu schreiben ist eine Sache, das sehe ich mehr oder weniger als eine Privatsache an (in ihrem Fall mit angeblich 240.000 followern, ist das wohl auch nicht mehr privat). Sich aber in Interviews und Diskussionen öffentlich zu machen mit der falschen Identität grenzt schon an Betrug.
      Ich kann mir vorstellen, dass das Fräulein seine Felle wegschwimmen sah und es deshalb überempfindlich wurde.

      Antworten
  2. Ursula Künning

    Hallo,

    ich habe read on gerne gelesen und praktisch jedes Wort geglaubt. Dementsprechend enttäuscht bin ich nun. Was ich gar nicht verstehe, sind die vielen LeserInnen, die nun schreiben, es wäre doch gar nicht so schlimm. Die Geschichten sind so schön, ob sie wahr sind oder nicht, scheint Nebensache zu sein. Die Geschichten sind nicht schön. Sie handeln unter anderen vom Holocaust und von einem Lebensgefährten, der aufgrund seiner Anoroxie an ihrer Seite verhungert. Es gibt einfach Grenzen des Erfindens von Geschichten, sofern sie nicht ausdrücklich als Erfindung deklariert sind.

    Sie, Hans Georg, spekulieren mit „Torschlusspanik, sexueller Frustration, Ersatzbefriedigung.“ Frauen so etwas zu unterstellen, ist völlig aus der Zeit gefallen und überflüssig. Abgesehen davon finde ich Ihren Blogeintrag zum Thema sehr gelungen. Auch mich hat die Aufdeckung des Betrug vom „Hocker gehauen.“ Bei Frau Hingst handelt es sich um Pseudologie. Ein krankhaftes Lügen um Aufmerksamkeit zu bekommen. Im Internet kann man einiges dazu lesen.

    Herzliche Grüße
    Ursula Künning

    Antworten
    1. Hans-Georg

      Hallo Ursula,
      wie ich oben schrieb, hatte ich hier und da meine Zweifel, ob das alles wahr wäre. Vielleicht bin ich deshalb nicht so arg enttäusch wie so viele andere. Und ja, in meinen Augen sind viele ihrer Geschichten schön, ich erwähnte oben einige Schlagwörter.
      Die Geschichten von der Großmutter und der Tante aus Wien sind, aus der jetzigen Perspektive gesehen, total daneben und gar nicht schön.
      Warum ist meine Spekulation aus der Zeit gefallen und überflüssig? Wie soll ich meine Meingung denn dann beschreiben? Sollte ich die drastischen Worte benutzen, die mir auf der Zunge lagen, nämlich ein Zitat aus einem Musical, welches die Protagonistin eingangs selbst über sich sagt? Ich glaube, Sie würden mir Frauenfeindlichkeit und schlimmeres unterstellen.
      Ich will mich gar nicht tiefer mit den Gründen des Lügengespinstes befassen. Der Fall ist für mich erledigt – so schade ich das Ende auch empfinde. Ich wiederhole mich: „Ich werde sie vermissen“.
      Fälle wie diesen hat es in meiner langjährigen Bloggerzeit (17 Jahre) immer mal wieder gegeben und wird es zukünftig auch weiterhin geben.

      Antworten
      1. Emmaline

        Hätten Sie einem Mann auch unterstellt sexuell frustriert zu sein? Darum geht es in erster Linie – Frauen wird grundsätzlich sexuelle Frustration unterstellt und das ist sexistisches Gedankengut! Warum das Fräulein alle getäuscht hat bleibt wohl ihr Geheimnis. Sexuelle Frustration als erster Gedanke zeugt aber von veralteten Moralvorstellungen und Vorurteilen Frauen gegenüber.

        Viele Grüsse
        Emmaline

        Antworten
        1. Hans-Georg

          Ich möchte betonen, dass ich ihr nicht unterstellt habe, sie sei sexuell frustriert. Es ist, da der Satz mit einem Fragezeichen versehen ist, eine Frage, eine Vermutung, dass es so sein könnte, aber nicht, dass es so ist.
          Im übrigen habe ich schon damit gerechnet, dass jetzt wieder feministisches Gedankengut auf mich zukommt bezüglich meiner Äußerung. Und warum ist das eine veraltete Moralvorstellung? Was hat das mit Moral zu tun? Was jemand im Bett treibt, oder auch nicht oder mit was oder mit wem, ist mir herzlich egal.
          Und ja, auch Männer können sexuell frustiert sein.

          Antworten
  3. Sunni

    Guter Text. Und bis auf die Torschlusspanik, die man doch hoffentlich mit 31!!! noch nicht hat, ob Männlein oder Weiblein, völlig nachvollziehbar. Ich werde das Blog ebenso vermissen, auch wenn ich traurig über alle Täuschungen bin, vor allem aber darüber, dass man Beileidsbekundungen (Brief, Karten, Päckchen etc) entgegennimmt, sich bedankt und alles erlogen war. Denn es gab auch den Tierarzt nie. Mal ganz von der Täuschung, die jüdische Seite betreffend, abgesehen. Schade, traurig. Psychologisch erklärbar, aber sehr schade. Sunni

    Antworten
    1. Hans-Georg

      Hallo Sunni!
      Wir kennen das Umfeld vom Frollein nicht. Es gibt Situationen, in denen plötzlich alle Freunde und Freundinnen heiraten oder schwanger sind. Und wenn es der Wunsch der Dame ist, einen tollen Mann an ihrer Seite zu haben und ein Kind in die Welt zu setzen? Hilfe, ich bin schon 31 und da ist niemand!
      Meine Frau (ja, ich war mal heterosexuell verheiratet) war 26 als unser Sohn geboren wurde. Da galt sie medizinisch als Spätgebärende! Sie war geschockt.

      Antworten
  4. Trulla

    Spekulieren wir nicht alle ein wenig, was eine so kluge junge Frau, die eine erfolgreiche Zukunft vor sich sehen konnte, bewogen haben mag, ein so starkes Lügengebäude zu errichten? Ein psychologischer Aspekt drängt sich doch auf, wo letztlich die Ursache auch zu suchen sein mag.

    Ich habe in den letzten Tagen unendlich viel gelesen über den Fall. Und schäme mich fast, so hereingefallen zu sein und, ja, so sehe ich das inzwischen, mich durch den Glauben an des Fräuleins berechtigte Empörung sogar manipulieren ließ, ihr nach den scheinbar “dunklen Briefen“ gut zuzusprechen, nicht aufzugeben.
    Hätte sie es doch nur getan! Es war die Chance, aus der Nummer herauszukommen. Vor der Promotion, vor dem goldenen Bloggerpreis, vor zuviel Öffentlichkeit!

    Antworten
    1. Hans-Georg

      Ich denke mal, sie hat sich durch den ungeheuren Zuspruch blenden lassen, vielleicht hat sie in einer Scheinwelt gelebt, die sie sich mit ihren Geschichten selbst aufgebaut hat. Sie hätte ja auch die Geschichten als Litheratur kennzeichnen können, wie es im allerletzten Beitrag ihres Blogs geschehen ist – allerdings zu spät. Warum eine nicht dumme junge Frau so dumm ist, zu glauben, in Zeiten des Internets wird das alles schon nicht herauskommen, kann man nicht verstehen.
      Auch wenn ich mir ggf. wieder heftige Vorwürfe lassen machen muss, sage ich mal:
      „Genie und Wahnsinn liegen oft dicht beieinander!“

      Antworten
  5. Elvira

    Ich habe schon seit geraumer Zeit nicht im besagten Blog gelesen, obwohl ich ihm recht lange gefolgt bin, da ich den Stil der Autorin sehr möchte. Ihre Beiträge berührten mich. Besonders ihr Engagement in der Slumklinik hat mich beeindruckt. Ihre Karten an Deniz Yücel waren wohl echt. Schockiert und abgestoßen an der ganzen Geschichte hat mich einzig und allein der Umgang mit den Opfern und den Hinterbliebenen des Holocaust. Wie kaltherzig muss man sein, um die Aufmerksamkeit auf diese Weise auf die eigene Person zu lenken. Ich hoffe, dass Frau Hingst ein psychologisch zu therapierendes Problem hat und nicht nur eine ausgezeichnete Betrügerin ist.

    Antworten
  6. Tim Neumann

    „Ist es Toschlusspanik, sexuelle Frustration, dass sie versucht hat, mit tollen – und dabei unwahren – Geschichten Aufmerksamkeit zu bekommen? Gewissermaßen eine Ersatzbefriedung?“

    Solche Zeilen kann wirklich nur ein alter Mann schreiben. Ich schäme mich ernstlich zum gleichen Geschlecht zu gehören wie Sie. Pfui!

    Antworten
    1. Hans-Georg

      Nur zu, schämen Sie sich für Ihr Geschlecht, ich habe nichts dagegen.
      Vielleicht habe ich nur das gesagt, was viele andere auch gedacht haben, aber nicht gewagt haben zu schreiben. Das hat nichts mit dem Alter oder mit dem Geschlecht zu tun.

      Antworten

Schreibe einen Kommentar zu Elvira Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert